/ Ausschnitt      518   2007 

Hartmut Piniek lebt im Süden von Leipzig, wo Spaziergänge manchmal ganz plötzlich an den Rand eines irdischen Jenseits führen. Die Tagebaukante trennt abrupt die sanfte grüne Hügellandschaft von den infernalischen Wüsten, die der Braunkohlenabbau ins Land gefressen hat. Der Blick in die Tiefe der Gruben ist faszinierend, schauderhaft, grandios, traurig - ein Schauen wie auf Schöpfungs- und Endzeit zugleich. Es ist eine Landschaft für Visionen.

Piniek ist Visionär. Seine Bilder zeigen eine starke Affinität zu den Gegebenheiten im Niemandsland der aufgelassenen Tagebaue, das nun am Ende des Industriezeitalters zur Freizeitidylle umgestaltet wird. Nicht etwa, dass er abbildet, was für jeden zu sehen und zu greifen wäre. Piniek interpretiert sein Selbst vor dem Hintergrund einer devastierten Landschaft, die von Paradies bis Hölle alle Möglichkeiten in sich trägt.

In seinen autodidaktischen Anfangsjahren war Piniek ein Surrealist, das Studium an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, das er erst im Alter von 29 Jahren begann, band ihn stärker an die Beobachtung der dinglichen Umwelt. Vor allem die menschliche Figur rückte in nervigen, expressiven Bildern in den Vordergrund. Schon während des Studiums deutet sich eine Veränderung des Blickwinkels an. Von der Augenhöhe zum Objekt bewegte sich Piniek nach oben, hin zur Vogelschau, die für seine aktuellen Bilder so charakteristisch ist. Die größere Übersicht bedeutete aber auch den Verlust der Nähe, des unmittelbaren Kontaktes. Die Figuren werden kleiner, die Strukturen des Umfeldes lösen sich auf, der Strich wird weicher. Die Entfernung von der konkreten Wirklichkeit bedeutet für Piniek heute, so lässt sich vermuten, eine größere Nähe zu sich selbst. Welterschaffung durch Malerei heißt für ihn zunächst Tilgung von störendem Beiwerk. Lautsprecher, Strommasten, Kabel, die früher für Verortung seiner Seelenlandschaften sorgten, sind weitgehend verschwunden. Geblieben sind diverse Versatzstücke, die in ungewisser Entfernung über dem Boden schweben, auf dem einzelne Figuren als winzige Striche ihres Weges durch die bereinigte Landschaft ziehen. Manchmal hängt ein Seil wie von einem entflohenen Fesselballon ins Bild und markiert den weltenthobenen Betrachterstandpunkt. Ewiges Schweben, Stürzen oder Steigen - von hier aus ist alles möglich. Ob Gefahr besteht, bleibt offen. Immerhin: Es ist still.

Es ist ein Moment der Ruhe nach einer unbenannten Katastrophe und vor dem ungewissen nächsten Unglück. Alle Last der Kultur ist abgefallen, die Lebenden sind als Nomaden auf sich gestellt und werden womöglich auf den Trümmern einen neuen Anfang wagen. Für Piniek haben solche Endzeitprojektionen etwas Befreiendes. Ebenso wie Lust am Untergang schwingt die Hoffnung auf neue Chancen mit, auf ein Ende aller Verstrickungen, auf die gordische Lösung. Wie der wechselnde Duktus zwischen wolkiger Fläche und markigem Strich, fasst auch die Farbigkeit diesen Widerspruch: Der Kontrast von luftigen Pastelltönen und hartem Schwarz hält die Stimmung stets ambivalent. Die geradezu obsessive Wiederholung ein und desselben Sujets in ständiger Variation lässt ahnen, wie stark die Tabula-rasa-Visionen bei Piniek Platz gegriffen haben.

Die schwebende Bildwelt des Hartmut Piniek ist gerade durch ihre Andeutungshaftigkeit offen für Assoziationen. Seine künstlerische Position kultiviert heute einen opulenten Minimalismus an der Kippstelle von Abstraktion und Gegenständlichkeit. Die Grenze zur sich selbst genügenden reinen Peinture überschreitet Piniek dabei nie, wie am seidenen Faden hängt er an der realistischen Tradition, die auf Welthaltigkeit in den Bildern besteht. Auch im Rückgriff auf die surrealistischen Schöpfungmythen erweist sich Piniek als ein Romantiker - als ein Wanderer über dem Nebelmeer der zerstobenen Ängste und Träume des 20. Jahrhunderts.

Tim Sommer - aus: Katalog Hartmut Piniek 2000